Toxischer Optimismus

Toxischer Optimismus

Wer kennt sie nicht, die Sprüche, die uns in schwierigen Zeiten aufmuntern sollen: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ „Hinter jeder noch so dunklen Wolke scheint die Sonne!“ „Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus!“ Fordern sie uns zum Optimismus auf? Ja – allerdings ist das toxischer Optimismus!

Ich durfte mir selbst auch schon solche Sprüche anhören. Während sie mir in manchen Momenten den Kopf zurechtgerückt und meine Perspektive erweitert haben, waren sie in anderen Momenten alles andere als hilfreich. Als ich so darüber nachdachte, warum die Sprüche bei ein und derselben Person so unterschiedlich ankommen, haben sich mir zwei Fragen aufgedrängt: Muss man wirklich immer glücklich sein? Und kann der Zwang zum Glücklichsein und zum ewigen Optimismus auch negative Konsequenzen haben? Los ging es mit der Recherche, bei der ich schließlich auf den Begriff toxischer Optimismus gestoßen bin.

Toxischer Optimismus – was sagt die Forschung?

Dass die Aufforderung, immerzu positiv zu denken und ausschließlich positive Emotionen zuzulassen, als toxischer Optimismus oder auch toxische Positivität bezeichnet wird, sagt schon alles. Man muss auf gar keinen Fall immer glücklich sein, sondern darf durchaus auch mal traurig sein, wütend, nachdenklich, ängstlich oder was es sonst noch im emotionalen Spektrum gibt.

Emotionen sind adaptiv, sie passen sich also der Situation an und erfüllen damit einen Sinn. Deshalb empfindet man bei der Erreichung eines Ziels Freude, Furcht bei Gefahr und Wut, wenn man unfair angegriffen wird. Dabei haben auch diejenigen Emotionen ihre Berechtigung, die wir selbst oftmals als negativ bewerten, denn auch sie erfüllen einen Zweck. Empfindet man beispielsweise bei drohender Gefahr Furcht, bereitet sich der Körper auf die der Situation angemessene Reaktion vor: Der Blutdruck erhöht sich und das Herz schlägt schneller, so dass mehr Blut in die großen Muskeln gepumpt und damit die Flucht erleichtert wird (Gruber et al., 2011).  

Alle Emotionen erfüllen einen Zweck – auch Traurigkeit

Doch wann und warum sind wir traurig? Man kann ja nicht gerade behaupten, dass es sich dabei um eine angenehme Emotion handelt. Allgemein kann man festhalten, dass uns Ereignisse traurig machen, die mit einem Verlust zu tun haben. Damit ist gar nicht mal unbedingt der Tod einer geliebten Person gemeint. Es kann ebenso das Ende einer Beziehung oder Freundschaft sein, der Verlust des Jobs, das Verpassen eines Ziels, der Verlust der Fähigkeit, seiner Lieblingstätigkeit nachzugehen oder der Verlust von Kontrolle in jedem beliebigen anderen Gebiet. Selbst Nachrichtensendungen können traurig machen – ich schaue sie mir nur noch selten an, weil ich mich danach so gut wie immer deprimiert fühle. Ob das mit dem Verlust des Glaubens an die Menschheit zu tun hat oder aber damit, keine Kontrolle über das Fortbestehen der Menschheit zu haben, sei mal dahingestellt.

Körperlich wirkt sich Traurigkeit dadurch aus, dass unsere Atmung langsamer und oberflächlicher wird, auch der Puls verlangsamt sich. Die Level an Acetylcholin, Noradrenalin und Serotonin verringern sich. Dadurch werden unsere Bewegungen lethargischer (Acetylcholin), unsere Aufmerksamkeit lässt nach und wir sind mehr nach Innen gekehrt (Noradrenalin). Außerdem wird unser Selbstwertgefühl geschwächt (Serotonin). Das klingt jetzt erst mal nicht so positiv. Aber Traurigkeit bringt uns auch dazu, über unser Leben zu reflektieren, was ab und an gar nicht so verkehrt ist. Und traurige Menschen können komplexe Probleme besser analysieren, sie haben weniger Wahrnehmungsverzerrungen als glückliche Menschen, berücksichtigen mehr Alternativen bei Entscheidungsprozessen und schätzen diese realistischer ein (Huron, 2018).

Traurigkeit ermöglicht uns also, unsere Situation besser zu analysieren und eine passende Vorgehensweise zu finden, mit der wir die Situation zum Guten kehren. Wenn wir traurig sind, heißt das also auf gar keinen Fall, dass wir uns unseren Problemen nicht stellen, ganz im Gegenteil: Wir verarbeiten das Geschehene, lösen uns davon und machen weiter. Dadurch, dass Traurigkeit uns lethargisch macht, hilft sie unserem Körper, mehr Ressourcen für unser Immunsystem zur Verfügung zu stellen, das dadurch Verletzungen und Entzündungen besser bekämpfen kann. Außerdem gibt sie unserem Körper die nötige Zeit, um wieder Kraft zu schöpfen.

Traurigkeit hat auch eine soziale Funktion, denn sie zeigt anderen, dass wir Hilfe benötigen und trägt somit zur Stabilisierung und Vertiefung unserer sozialen Kontakte bei. Und schließlich hilft sie uns, zu erkennen, was uns wirklich wichtig ist, indem sie uns unsere Werte und Träume vor Augen führt. Denn nur wenn uns der Verlust von etwas traurig macht, wissen wir, dass es uns tatsächlich wichtig war. Folglich können wir künftig noch genauer die Richtung bestimmen, in die wir unser Leben steuern wollen und unsere Strategien entsprechend anpassen.

Was macht den Zwang zum Glücklichsein toxisch?

Somit kann man auch die Frage danach ganz eindeutig beantworten, ob der Zwang zum Glücklichsein auch negative Konsequenzen haben kann. Wer seine negativen Emotionen unterdrückt, immer nur glücklich sein und positiv denken möchte, verhindert es, das Erlebte richtig zu verarbeiten. Man beraubt sich dadurch der Möglichkeit, seinen Körper einmal richtig erholen zu lassen, sich selbst besser kennenzulernen und die Beziehung zu Freunden und Familie zu vertiefen. Noch dazu ist die Wahrscheinlichkeit umso geringer, glücklich zu werden, je mehr man danach strebt. Denn dann legt man oftmals die Messlatte so hoch, dass man sich selbst damit unglücklich macht, weil das Glücksgefühl ausbleibt oder weniger ausgeprägt ist als erwartet (Mauss, 2011).

Toxischer Optimismus kann also entstehen, wenn man es anderen oder sich selbst nicht zugesteht, auch mal traurig zu sein und mit der Welt zu hadern. Ein exzellentes Beispiel dafür kann man im Pixar-Film Inside out (Deutsch: Alles steht Kopf) sehen, in dem das Zusammenspiel der Emotionen ganz wunderbar dargestellt wird. Dass es den Machern des Films wichtig gewesen war, alles wissenschaftlich korrekt darzustellen, zeigt die Tatsache, dass Dacher Keltner als Berater herangezogen wurde. Keltner ist Psychologie-Professor an der Berkeley University und Hauptreferent des Kurses „Science of Happiness“, den ich selbst auch abgeschlossen habe. Ein absolut empfehlenswerter Film, wenn man etwas über den richtigen Umgang mit Emotionen lernen möchte!

Damit soll nicht gesagt sein, dass jeglicher Optimismus und jegliche positive Einstellung toxisch ist und dass Schwarzmalerei besser ist. Schwarzmaler sind Menschen, für die das Glas grundsätzlich halb leer ist. Sie sehen nicht den strahlenden Sonnenschein, sondern die weit entfernte kleine Wolke am Himmel. Für solche Menschen, die sich gerne auch als Opfer anderer oder der Umstände sehen, ist ein wenig Distanz zu sich und ihren Problemen manchmal nicht verkehrt. Das gilt ganz besonders dann, wenn sie andere gerne zum Mülleimer für ihre Probleme machen. Traurigkeit dahingegen ist eine Emotion, die auf ein bestimmtes Ereignis folgt und nach ein paar Stunden oder Tagen wieder vergeht. Es sei bemerkt, dass es in keinem der erwähnten Beispiele um Depression oder depressive Verstimmung geht. Hier kann toxischer Optimismus noch sehr viel Schlimmeres anrichten als bei Menschen, die sich über einen kurzen Zeitraum hinweg niedergeschlagen fühlen!

Wie kannst du einer traurigen Person helfen ohne dass toxischer Optimismus im Spiel ist?

  • Hab ein offenes Ohr für ihre Probleme und verzichte auf Motivationssprüche und Plattitüden. Sagt sie dir, dass sie einen schlechten Tag hat oder allgemein zurzeit etwas niedergeschlagen ist, antworte also nicht mit: „Überleg doch mal, wie gut es dir eigentlich geht!“ Frage sie stattdessen, was los ist – und höre der Antwort aufmerksam und empathisch zu.
  • Es ist gar nicht nötig, dass du ihre Probleme löst. Oft kennen wir die genauen Hintergründe des Problems nicht und gehen bei der Problemlösung von unseren eigenen Werten und Vorstellungen aus. Dadurch enden solche Versuche schnell in Bevormundung. Außerdem ist wie bereits beschrieben eine der Funktionen von Traurigkeit, dass sie unsere Problemlösungsfähigkeit verbessert. Die Person wird also sehr wahrscheinlich selbst eine gute Lösung finden. Es reicht, wenn du Interesse und Verständnis signalisierst. So wird es der anderen Person schon alleine dadurch ein klein bisschen besser gehen, dass sie sich angenommen fühlt und ihr authentisches Selbst sein darf. Dadurch wird sie sich auch beim nächsten Mal wieder trauen, sich zu öffnen und um Hilfe zu bitten.
  • Du könntest die Person fragen, ob es etwas gibt, an dem sie sich heute erfreuen würde. Noch besser ist es, wenn du anbietest, etwas mit ihr zusammen zu unternehmen, wenn sie das möchte.
  • Wenn dir die richtigen Worte fehlen, reicht es zu sagen: „Ich weiß gerade überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin aber wirklich froh, dass du mir das erzählt hast.“
  • Und manchmal sagt eine Umarmung mehr als tausend Worte.

Was kannst du tun, wenn du dich selbst niedergeschlagen fühlst?

  • Hast du keine Kontrolle über eine Situation, suche nach dem Silberstreif am Horizont, das heißt, bewerte die Situation anders. Hat dir jemand das letzte Stück Kuchen vor der Nase weggeschnappt, kannst du dich darüber ärgern. Du könntest dir aber auch vor Augen halten, dass du deinem Körper jetzt eine zuckerhaltige Kalorienbombe weniger zumutest. Diese Umbewertung wird nicht als toxischer Optimismus bezeichnet. In kontrollierbaren Situationen dahingegen ist diese Methode weniger geeignet. Hier solltest du lieber aktiv werden und die Situation ändern, damit sie dir nicht wieder und wieder begegnet (Troy, Shallcross, & Mauss, 2013).
  • Akzeptiere die Traurigkeit als das, was sie ist: Eine Emotion, die ein normaler und wichtiger Teil deines Lebens ist. Sie zeigt an, dass du gerade einen Verlust erlitten hast, sie wird aber auch wieder abklingen. Dadurch verlierst du dich nicht zu tief in der Traurigkeit und kannst das Ganze mit ein wenig Distanz betrachten.
  • Journaling: Schreibe auf, wie es dir gerade geht und was dir durch den Kopf geht. Dabei kannst du ein Tagebuch verwenden, ein Dokument auf deinem Laptop oder was dir sonst in die Finger kommt. Das hilft dir dabei, deine Gefühle besser einzuordnen und schafft Klarheit in deinen Gedanken. Außerdem lässt es dich mit etwas mehr Distanz auf deine Situation blicken. Achte dabei aber darauf, dass du nicht in einer negativen Gedankenspirale hängenbleibst. Falls das geschieht, betrachte deine Situation aus verschiedenen Perspektiven. Wie würde beispielsweise ein unbeteiligter Beobachter über die Situation berichten?

Quellenangaben:

Gruber, J., Mauss, I. B., & Tamir, M. (2011). A Dark Side of Happiness? How, When, and Why Happiness Is Not Always Good. Perspectives on Psychological Science, 6(3), 222–233.

Huron, D. (2018). On the functions of sadness and grief. In H.C. Lench (ed.), The Function of Emotions: When and Why Emotions Help Us. Springer International Publishing, pp. 59-91.

Mauss, I. B., Tamir, M., Anderson, C. L., & Savino, N. S. (2011). Can seeking happiness make people unhappy? Paradoxical effects of valuing happiness. Emotion, 11(4), 807–815.

Troy, A. S., Shallcross, A. J., & Mauss, I. B. (2013). A person-by-situation approach to emotion regulation: Cognitive reappraisal can either help or hurt, depending on the context. Psychological science, 24(12), 2505-2514.

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Foto von Madison Oren auf Unsplash

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